Vor etwa drei oder vier Jahren lernte Mama Tante Gisela im Internet kennen. Sie hatten sich unter einem Rezept-Post über ein traditionellen Eintopf gestritten.
Mama war überzeugt, dass man Zwiebeln und Karotten sofort und zusammen anbraten müsse, während Tante Gisela darauf bestand, dass zuerst die Karotten in die Pfanne kommen sollten, erst nach fünf Minuten dürfe man die Zwiebeln hinzufügen. Das war Mamas erste Meinungsverschiedenheit in der weiten Welt des Internets.
Ich weiß nicht, wie sie es schafften, sich trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten über das Anbraten zu versöhnen, aber der Austausch begann und hielt eine lange Zeit an.
Tante Gisela wurde beinahe ein Teil unserer Online-Familie: Sie war immer auf dem Laufenden über unser Leben und gab seinen Rat.
Sie schickte Mama sogar Geschenke zu Feiertagen: eine warme Decke, Preiselbeermarmelade, einen Satz Schraubendreher (Mama hatte ihr damals erzählt, dass sie nicht einmal welche im Haus hatte). Auch Mamas Geschenke waren nicht minder kreativ: Wollsocken, ein Gürtel aus Schafswolle, Gläser mit eingelegten Pilzen.
Anfang Dezember feierte Tante Gisela ihren sechzigsten Geburtstag. Mama erhielt eine Einladung und das Geld für das Ticket.
— Ich fahre nicht! Wohin soll ich gehen, alte Frau? — Mama lief durch die Wohnung, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fahren und dem Drang zu Hause zu bleiben.
Ich beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Ein neuer Wintermantel wurde gekauft und meine Studienfreundin, die den schwierigen Beruf der Chirurgin gegen das Friseurhandwerk eingetauscht hatte, brachte Mamas Frisur in Ordnung. Außerdem kauften wir ein Geschenk: Ohrringe mit großen Steinen.
Um Mama nicht die Versuchung zu geben, ihre Meinung zu ändern, brachte ich sie persönlich zum Bahnhof und setzte sie in den Zug. Als der Zug abfuhr, atmete ich erleichtert auf: Sie sollte sich entspannen. Die letzten zehn Jahre, seit Papas Tod, war Mama immer mehr in sich gekehrt. Als ich geheiratet und zu meinem Mann gezogen war, zog sie sich noch mehr zurück.
Der Anruf von Mama kam, als sie ankam:
— Ein Mann hat mich empfangen, vermutlich Giselas Ehemann. Seltsam, sie hat nie gesagt, dass sie verheiratet ist. Na gut, das kläre ich. Macht euch keine Sorgen! Bald bin ich zurück!
Mama kam jedoch nicht zurück: Tante Gisela war ein sechzigjähriger Giselbert. In Kombination mit dem nicht deklinierbaren Nachnamen war das Geschlecht des Nutzers unklar. Onkel Giselbert zeigte Interesse an Mamas Fotografie, zögerte jedoch, seine Geschlechtsidentität zuzugeben. So kommunizierte er weiterhin und interessierte sich stets für Mamas Leben, schickte ihr die gleichen Geschenke.
Sie kamen im Januar in unsere Stadt, um die Mietangelegenheit von Mamas Wohnung zu klären. An Mamas Ohren hingen die besagten Ohrringe, die wir für „Tante Gisela“ gekauft hatten.
— Kommt ihr zur Hochzeit? — fragte Mama verlegen.
— Ja, kommen wir, — versprach ich und konnte meinen Augen kaum trauen: Mama lächelte ständig und wirkte um mindestens fünfzehn Jahre jünger.
Onkel Giselbert gefiel mir und meinem Mann auch sehr gut. Unsere Tochter war ganz hin und weg von ihrem neuen Opa. Das Wichtigste war, dass Mama neben ihm aufblühte.
Sie heirateten. Bescheiden. Onkel Giselbert hatte keine eigene Familie: Er war 2006 verwitwet und hatte keine Kinder. So lebte er allein.
Ich bin überglücklich, dass zwei Einsamkeiten sich begegnet sind. Mögen sie glücklich sein. Das haben sie sich verdient!
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