**Tagebucheintrag:**
„Wohin willst du denn? Wer soll uns jetzt die Suppe kochen?“ – zischte er wütend.
Kristina stellte die Tasse auf den Tisch und sagte ruhig:
„Ich gehe, Alex.“
Stille breitete sich aus. Selbst der Fernseher, der sonst im Hintergrund vor sich hinplapperte, schien das spürbare Schweigen zu respektieren. Alex drehte sich langsam um, als würde die Zeit stillstehen.
„Bist du verrückt geworden? Wer soll kochen?“ – seine Stimme zitterte, während er sie anstarrte, als hätte sie das Ende der Welt verkündet.
Sie stand in der Küchentür, eine Tasche mit Dokumenten in der Hand. Kopien ihrer Zeugnisse, der Arbeitsvertrag für den neuen Job und – das Wichtigste – der Mietvertrag für eine Wohnung. In einem anderen Stadtteil. In einem anderen Leben. In einer anderen Version von sich selbst.
Seine Worte hingen in der Luft wie Staubpartikel. Er trug ein abgewetztes T-Shirt, kratzte sich an der Ferse und hielt die Fernbedienung in der Hand. Ein gewöhnlicher Abend, wie so viele in den letzten zehn Jahren. Doch für Kristina war es der letzte.
Früher waren sie im Zug von München nach Hamburg gesessen, auf den oberen Plätzen. Sie hatten gelacht, billige Brötchen vom Bahnhofskiosk gegessen, und er hatte Witze erzählt, während er ihr versehentlich die Finger berührte, als er ihr den Tee reichte. Damals hatte sie von Herzen gelacht – es war der erste Urlaub seit Ewigkeiten, und die Kinder waren bei der Oma.
Sie hatte aus dem Fenster geschaut und gedacht: „Das ist Freiheit.“ Der Zug ratterte im Rhythmus ihres Herzens, und alles schien möglich.
„Erinnerst du dich, wie wir von der Weihnachtsfeier abgehauen sind und im Park gelandet sind?“ – hatte er damals gefragt.
„Natürlich. Und du hast gesagt, du heiratest mich, selbst wenn ich schnarche und dick werde“, hatte sie lächelnd geantwortet.
„Ich sagte *wenn*, nicht *wann*“, hatte er mit einem Zwinkern erwidert. Damals klang es nach einem Scherz.
Jetzt, fünf Jahre später, trafen diese Worte wie ein Schlag.
In der Küche roch es nach angebranntem Haferbrei. Auf dem Tisch stand ein dreckiger Herd, unter dem Hocker lagen die Socken ihres Sohnes, und das Spülbecken war überfüllt.
„Kristin, wann wirst du endlich mal abspülen?“ – rief er aus dem Wohnzimmer. „Es ist nicht mal ein Löffel sauber!“
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, holte die Tupperdose aus der Schublade. „Mittagessen für Alex.“ Wie immer. Nur heute zum letzten Mal.
Sie erinnerte sich an den Flug nach Mallorca. Sie saß am Fenster, er neben ihr – doch die ganze Zeit starrte er auf seinen Tablet-Bildschirm. Unten sahen die Wolken aus wie Zuckerwatte.
„Schau mal, wie schön“, flüsterte sie.
„Hm“, murmelte er, ohne aufzublicken.
Am dritten Tag spielte er mit „Markus aus Zimmer 12“ Billard und kam erst früh morgens zurück.
Spätabends stand sie an der Waschmaschine, während aus dem Wohnzimmer Gelächter drang – er schaute eine Gameshow, in der Leute schrien und Tausende Euros verloren. Dieser Klang stach in ihr Herz, jeden Tag ein bisschen schärfer.
„Ich behandle dich doch gut“, hatte er einmal gesagt, als sie ein Gespräch versuchte. „Ich schlage dich nicht, ich betrüge dich nicht. Andere haben es viel schlimmer. Du hast Glück.“
*Glück*.
Das Wort brannte sich ein. Sie erinnerte sich, wie sie mit 39 Grad Fieber im Bett lag. Er hatte ihr Tabletten auf die Fensterbank gelegt und war zum Fußball gegangen. Später rief er aus der Küche:
„Kristin, du hast keine Suppe gemacht. Was soll ich jetzt essen?“
Sie starrte an die Decke und fragte sich, wann sie aufgehört hatte, sie selbst zu sein. Wann sie nur noch eine Funktion war: kochen, putzen, schweigen.
Einmal sah sie ihr Gesicht im Spiegel – müde, leblos. In ihrem Kopf hallte es: *Du musst. Du musst. Du musst…*
In dieser Nacht holte sie ihr altes Poesiealbum hervor. Ihre Schrift war jugendlich, lebendig. Sie weinte leise. Nicht vor Schmerz – vor Überraschung, dass es dieses andere Ich einmal gegeben hatte.
Am nächsten Morgen bewarb sie sich als Rezeptionistin in einer Praxis. Nicht wegen des Traumjobs – sondern weil es *außerhalb* war. Mit festen Zeiten. Mit Kollegen. Mit einem Gehalt auf ihrem eigenen Konto.
Jetzt, vor Alex, spürte sie zum ersten Mal seit Jahren, dass sie die Wahrheit sagte. Nicht für ihn – für sich.
„Ohne dich bricht hier alles zusammen“, murmelte er. „Die Kinder…“
„Die Kinder sind erwachsen“, antwortete sie leise. „Sie leben genauso wie du. Warten, dass jemand alles für sie tut. Ich will nicht, dass unsere Tochter denkt, das sei normal.“
Er schwieg. In seinen Augen blitzte Angst auf – nicht um sie, sondern um sein gewohntes Leben.
„Wohin willst du?“ – seine Stimme war rau.
„Dorthin, wo mich niemand fragt, wer kocht.“
Kristina nahm ihren Mantel, die vorbereitete Reisetasche. In der Seitentasche steckte ein Kugelschreiber, den die Kinder ihr geschenkt hatten. Sie strich darüber. Dann ging sie.
Die Luft draußen roch nach nassem Asphalt, frischem Brot von der Bäckerei an der Ecke – und nach Freiheit.
Die erste Nacht verbrachte sie auf einer Luftmatratze, unter der alten Autodecke ihres Sohnes. Die Wände waren kahl, die Lampe hatte keinen Schirm. Doch selbst in dieser Leere war es leiser als zu Hause. Niemand verlangte etwas.
Sie wachte ohne Wecker auf. Kein Geschirrklirren, kein Fußballgebrüll. Nur Stille. Das Morgenlicht fiel durch den Vorhang, den sie im Sonderangebot gekauft hatte. Fast wie Glück.
In der Praxis lächelten die Kollegen warm. Sie verwechselte noch Termine, aber jemand stellte ihr geduldig Tee hin, ein anderer ließ Schokolade auf ihrem Tisch liegen. Sie spürte, wie das alte Leben von ihr abfiel.
Ein Monat verging. Alex rief nicht. Die Tochter schrieb: *Mama, ich verstehe dich. Gib mir Zeit.* Der Sohn schwieg. Sie nahm es ihm nicht übel.
Eines Tages fand sie einen Briefumschlag vor ihrer Tür. Darin ein Foto: sie, Alex und die Kinder, vor fünfzehn Jahren. Sie faltete es zweimal und legte es weg – nicht in den Müll. Es durfte da sein, ohne wehzutun.
Der Frühling kam plötzlich. Auf der Arbeit wurde sie befördert. Sie bekam Schlüssel, einen Urlaubsplan. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie Vertrauen.
An einem kühlen Abend schenkte ein Barista in einem pinken Hoodie kostenlosen Kaffee aus.
„Mit Milch?“ – fragte er.
„Mit Milch“, antwortete sie – und lachte. Einfach so. Weil niemand fragte: *Wer kocht für uns?*
Sie ging mit dem Pappbecher in der Hand. Drinnen war es leicht. Und in ihrem Spülbecken lag kein einziges schmutziges Besteck.
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