Weil er einfach gut ist…
Viktoria stellte die schweren Koffer im Flur ab.
„Juhu!!! Mama ist da!!!“, kreischten die Mädchen freudig und stürmten aus dem Kinderzimmer herbei.
Vicky lächelte. Endlich zu Hause! Hinter ihr lagen vier Monate Fortbildung, eine schäbige WG und strenge Prüfungen…
Sie umarmte und küsste ihre Töchter, die sich an sie schmiegten. Und natürlich gab es Geschenke!
„Lene, das ist für dich!“, sagte die Mutter und reichte der Älteren einen kuscheligen Pullover. Lene, die modeverrückte Lenchen, quietschte vor Freude, rannte ins Kinderzimmer – doch kam sofort zurück, umarmte ihre Mama verlegen und flüsterte:
„Danke, Mama!!! Genau davon habe ich geträumt!“, ehe sie wieder verschwand.
„Marlene, und das hier ist für dich!“, verkündete Vicky und holte etwas Weiß-Blaues, Weiches und Irgendwie-Seltsames aus dem Koffer.
Oma Helga zog skeptisch die Augenbrauen hoch: Was für ein merkwürdiges Ding hielt ihre jüngste Enkelin da in den Händen? Eine Puppe?
Marlene blickte in die schrägen Augen eines Hasen. Sein Kopf war aus Pappmaché, Bauch und Pfoten weich mit Sägemehl gefüllt. Er trug ein blaues Hemd mit schiefem Kragen – altmodisch, aber irgendwie charmant.
Eigentlich wäre alles gut gewesen, wenn nicht…
Ein hässlicheres Spielzeug hätte man sich kaum ausdenken können. Die schiefen Augen unterschiedlicher Größe saßen auf verschiedenen Höhen, die Nase krumm wie ein Kartoffelsack, und das lächelnde Maul verzog sich schuldbewusst, als würde sich der Hase für sein Aussehen entschuldigen.
„Boah!“, rief Lene, die schon ihren neuen Pullover trug. „Mama, was ist das für ein Scheusal?“
„Kind…“, seufzte Oma Helga. „Gab’s wirklich nichts Hässlicheres in ganz München? Damit könnte man Vögel vom Acker verscheuchen!“
Bei diesen Worten zuckte die kleine Marlene zusammen, drückte den Hasen fest an sich und verschwand im Kinderzimmer.
„Ich verstehe deine Empörung, Mama“, sagte Vicky. „Aber… der große Spielzeugladen in München war voll mit Puppen, überall Regale bis unter die Decke… Und er saß ganz allein ganz unten in einer Ecke. Da tat er mir einfach leid. Und ich glaube, er hat sich gefreut, als ich ihn mitgenommen habe. Als hätte er ,Danke‘ gesagt…“
Oma Helga schüttelte ungläubig den Kopf. Ihre erwachsene Tochter, Ärztin mit besten Qualifikationen, hatte wohl im Herzen noch nicht genug Spielzeug gehabt – ihre Nachkriegskindheit war nicht reich an solchen Dingen gewesen.
Der hässliche Hase, gefertigt in einer Spielzeugfabrik im fernen Bayern, wurde Marlenes bester Freund. Sie taufte ihn feierlich „Konrad“. Die beiden „R“, die Marlene mit einem rollenden Akzent aussprach, passten perfekt zu seinem skurrilen Aussehen.
Tagsüber wartete „Koni“ geduldig auf sie, nachts hörte er Geschichten von Schulkameradinnen und Träumereien zu. Marlene schlief ein, sein krummes Näschen an ihre Wange gedrückt…
Die Jahre vergingen.
Durch häufiges Waschen wurde Konis weißes Fell gelblich – das Sägemehl hatte ihn verfärbt –, und das blaue Hemd verblasste zu einem Hellblau. Er sah jetzt noch schrecklicher aus, aber gerade deshalb liebte Marlene ihn nur noch mehr.
Mit siebzehn erlebte Marlene, wie ihre ältere Schwester einen Sohn bekam, den kleinen Max. Sobald der Junge begriff, dass es auf dieser Welt mehr gab als Milchflaschen, wählte er sich den hässlichen Hasen zum Idol. Beim Einschlafen flüsterte Max ihm süße Dinge zu, und Koni lächelte ihn an – genau wie einst Marlene.
Widerwillig gab Max den Hasen später seinem weinenden Cousin Felix. Doch die Tränen verwandelten sich in Freude, als Felix Koni an sich drückte und strahlend nach Hause ging. Der Hase hatte einen neuen Freund gefunden.
Keiner war überrascht, als Felix das Spielzeug eines Tages einem fremden Mädchen im Park schenkte, das sich das Knie aufgeschlagen hatte. Sie nahm den Hasen verwundert an…
Damit hätte die Geschichte enden können – doch das Schicksal hatte anderes vor.
Jahre später, als Viktoria selbst schon eine weiße Haarpracht trug, war sie bei ihrer Jugendfreundin Gisela zu Besuch. Die beiden unterhielten sich über alte Zeiten, und plötzlich erzählte Vicky die Geschichte vom hässlichen Hasen.
„Meinst du etwa den hier?“, fragte Gisela und zog etwas Verblasst-Blaues hinter ihrem Rücken hervor.
„Koni!“, hauchte Vicky.
„Ob er nun Koni oder Korbinian heißt – ich versuche seit Jahren, dieses Ungetüm wegzuwerfen! Aber meine Urenkelin Lotte lässt es nicht zu. Schenkte ihr irgendein Junge im Park, als sie sich wehgetan hatte…“
Vicky nahm den Hasen in die Hände. Sie dachte an jenen Sommertag zurück, an Marlenes kleine Finger, die Koni so fest umklammert hatten… Und lächelte.
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