**Tagebucheintrag**
Heute war einer dieser Tage, an denen einfach alles schiefging. Zwei endlose Meetings, ein Konflikt mit einem Lieferanten, Berichte, die wegen eines dummen Praktikantenfehlers neu geschrieben werden mussten – ich, Franziska Meier, war einfach nur fertig. Meine Gedanken kreisten im Kopf, und ich spürte, wie meine Füße in den unbequemen Pumps schmerzten. Alles, was ich wollte, war nach Hause, die Schuhe ausziehen, eine heiße Dusche nehmen und ins Bett fallen.
Da vibrierte mein Telefon in der Tasche. Ich zog es widerwillig hervor, überzeugt, dass mein Mann, Michael, nur wissen wollte, was es zum Abendessen geben sollte. Doch stattdessen blinkte eine unbekannte Nummer auf dem Display. Normalerweise nehme ich solche Anrufe nicht an, aber irgendwas ließ mich doch abheben.
„Hallo?“, sagte ich müde und ging weiter Richtung Wohnung.
„Wo läufst du denn rum, du dumme Ziege? Wir stehen seit einer Stunde vor deiner Tür und haben Kohldampf!“, bellte eine raue Stimme in mein Ohr.
Ich erstarrte mitten auf dem Gehsteig. Die Fußgänger um mich herum hasteten weiter, während mir der Atem stockte. Diese Stimme – scharf, unverwechselbar – gehörte Michael’s Tante, Karin Schmidt.
„Entschuldigung, was?“, fragte ich und hoffte, mich verhört zu haben.
„Bist du schwerhörig?“, fauchte sie. „Wir sind da! Ich, deine Schwiegermutter und der Jörg. Hast du das etwa vergessen?“
Verwirrt versuchte ich mich zu erinnern, aber es gab keinen Feiertag, keinen Geburtstag, keine Ankündigung.
„Frau Schmidt, ich wusste nichts von Ihrem Besuch“, erklärte ich vorsichtig.
„Wie kannst du das nicht wissen? Micha hat das vor einer Woche mit dir besprochen!“, empörte sie sich.
Ich atmete tief durch. Klar, wieder mal hatte Michael „vergessen“, mir Bescheid zu sagen. Typisch.
„Michael hat mir nichts gesagt. Ich komme in etwa vierzig Minuten“, erwiderte ich trocken.
„Vierzig Minuten?! Wir sind hungrig und kaputt! Kannst du nicht schneller?“
In mir stieg die Wut auf. Unangekündigt vor der Tür stehen, fordern, dass ich alles fallen lasse – was, wenn ich heute nicht nach Hause gekommen wäre?
„Hören Sie, ich wurde nicht informiert. Geben Sie mir Zeit.“
„Jörg wird gleich ausflippen vor Hunger!“, zischte sie.
Jörg – Michaels Cousin, ein Mann Mitte dreißig, der immer noch bei Mama wohnte und nicht mal ein Spiegelei braten konnte.
„Wo ist Michael?“, fragte ich kühl.
„Wie soll ich das wissen? Er geht nicht ran!“
Ich legte einfach auf. Kein Abschied, nichts. Mein Puls raste. Ich wählte Michaels Nummer. Keine Antwort. Klar, er versteckte sich, wie immer.
Das Telefon klingelte erneut – diesmal die Schwiegermutter, Edith Bauer. Ihr süßlicher Tonfall ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen.
„Schatz, wo bleibst du? Karin ist schon ganz hibbelig!“
„Frau Bauer, ich wusste von nichts. Bitte haben Sie Verständnis.“
„Ach, Micha hat doch gesagt, er hätte alles geklärt!“, log sie ungeniert. „Aber beeil dich bitte, Karin ist unausstehlich, wenn sie hungrig ist.“
Ich zählte innerlich bis zehn. Wieder diese Erwartungshaltung – ich solle alles stehen und liegen lassen, nur weil jemand zu faul war, rechtzeitig zu kommunizieren.
„Ich komme, aber kochen werde ich heute nicht. Wenn Sie Hunger haben, gehen Sie ins Café nebenan.“
„Aber Schätzchen, wir sind doch Familie! Jörg verträgt doch kein Restaurant-Essen!“
Ich schmunzelte spöttisch. Als ob Jörg nicht bei unserem letzten Treffen eine ganze Pizza in sich hineingestopft hätte.
Plötzlich hatte ich die Schnauze voll. Warum sollte ich mich hetzen lassen? Ich drehte mich um und betrat ein kleines italienisches Restaurant, in dem ich schon lange essen wollte.
Die Kellnerin lächelte freundlich. „Was darf’s sein?“
„Pasta Carbonara, ein Glas Weißwein und zum Dessert Tiramisu.“
Mein Telefon vibrierte wieder – Karin. Ich ignorierte es. Kurz darauf klingelte Edith, dann eine Nachricht von Michael: „Wo bist du? Mama sagt, du gehst nicht ran.“
„Arbeit. Spät.“ – Kurz, knapp. Ich stellte das Telefon auf lautlos.
Das Essen war perfekt, aber das beste war das Gefühl der Freiheit. Warum hatte ich mich jahrelang wie eine Dienstmagd behandeln lassen?
Zuhause war es still. Nur die leeren Essensboxen vor der Tür verrieten, dass Michaels Verwandte wohl doch etwas gefunden hatten.
Michael saß mit finsterer Miene vor dem Fernseher. „Na, endlich“, murmelte er.
Ich lächelte nur. „Du hättest mich warnen können.“
Der Rest des Abends war eine Lektion für alle. Als die Schwiegermutter später wütend anrief, weil ich ihr teure Lebensmittel liefern ließ (natürlich auf ihre Rechnung), erklärte ich einfach: „Sie wollten doch, dass ich Sie versorge.“
Plötzlich wurde höflich mit mir gesprochen. Selbst Karin entschuldigte sich. Und Michael? Der schaute mich plötzlich mit Respekt an.
**Was ich heute lernte:** Manchmal muss man Grenzen setzen, damit andere sie akzeptieren. Wer sich wie eine Fußmatte behandeln lässt, wird auch so behandelt. Aber wer für sich einsteht, gewinnt Respekt – und das ist jeden Kampf wert.
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