**Tagebucheintrag**
Heute war ein endlos langer Tag. Zwei Besprechungen, Ärger mit einem Lieferanten, Berichte, die wegen eines Praktikantenfehlers nochmal überarbeitet werden mussten. Mein Kopf brummt, meine Gedanken verschwimmen. Ich, Antonia Bauer, konnte nur eines: nach Hause kommen, die unbequemen Schuhe ausziehen, eine heiße Dusche nehmen und einfach verschwinden – in den Schlaf, in die Stille.
Dann vibrierte mein Handy in der Tasche. Widerwillig holte ich es heraus, sicher, dass mein Mann, Markus, nur wissen wollte, was es heute Abend zu essen geben würde. Doch ein unbekannter Nummer blendete auf dem Display auf. Normalerweise gehe ich nicht ran, wenn ich die Nummer nicht kenne. Aber heute spürte ich – ich musste es tun.
„Hallo?“ Meine Stimme klang müde, während ich weiter Richtung Wohnung lief.
„Wo steckst du eigentlich, du Schaf? Wir warten seit einer Stunde vor deiner Tür und haben Kohldampf!“, bellte eine grobe Stimme in die Leitung.
Ich erstarrte mitten auf dem Gehweg. Die Welt um mich herum bewegte sich weiter, Leute umgingen mich, eilten ihren Wegen nach. Doch ich stand da, unfähig zu glauben, was ich gehört hatte. Diese Stimme – scharf, mit diesem typischen Unterton – gehörte Markus‘ Tante, Gerlinde Schmidt.
„Entschuldigung, wie bitte?“, fragte ich, in der Hoffnung, mich verhört zu haben.
„Hörst du schlecht oder was?“, fauchte es zurück. „Wir sind da! Ich, deine Schwiegermutter und der Tobias. Seit einer Stunde stehen wir hier. Hast du das etwa vergessen?“
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Kein Feiertag, kein Geburtstag, keine Ankündigung. Nichts davon.
„Gerlinde, tut mir leid, aber ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich vorsichtig.
„Wie, du wusstest nichts?“, rief sie empört. „Markus und ich haben das vor einer Woche abgesprochen! Er hätte dir Bescheid sagen sollen!“
Tief atmete ich ein. Na toll. Wieder mal ein „Vergessen“ meines lieben Gatten. Markus pflegte wichtige Dinge gerne zu „übersehen“, wenn es um Verantwortung ging.
„Markus hat mir nichts gesagt“, erwiderte ich fest. „Ich komme erst in etwa vierzig Minuten.“
„Vierzig Minuten?!“, kreischte Gerlinde. „Wir sind hungrig und müde von der Fahrt! Kannst du nicht schneller?“
Ich spürte, wie die Wut in mir aufwallte. Unangekündigt aufkreuzen, frech werden, erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse, um sie zu bekochen… Ein Gedanke blitzte kurz auf: *Was, wenn ich heute bei einer Freundin übernachtet hätte? Oder auf Dienstreise wäre?*
„Hört mal, ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich so ruhig wie möglich. „Gebt mir bitte die Zeit, nach Hause zu kommen.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“, schnaubte Gerlinde. „Tobias hängt schon halb am Hungertuch!“
Tobias – der Cousin meines Mannes, ein 35-jähriger Riese, der bei seiner Mutter wohnte und nicht mal ein Spiegelei braten konnte.
„Wo ist Markus?“, fragte ich, während mein Blut zu kochen begann.
„Keine Ahnung! Er geht nicht ran. Wird wohl länger arbeiten müssen“, warf Gerlinde ungeduldig ein. „Also, kommst du jetzt oder was?“
Ich legte auf, ohne mich zu verabschieden. Mein Herz pochte vor Empörung. Ich rief Markus an. Ein endloses Klingeln, dann die Mailbox. Beim zweiten Versuch dasselbe. Dieser Trick war typisch für ihn – wenn er keine Lust auf unangenehme Gespräche hatte, ließ er es einfach klingeln.
*Also weiß er Bescheid*, dachte ich. *Und drückt sich wie immer vor der Verantwortung.*
Dann klingelte das Handy erneut. Diesmal war es die Nummer meiner Schwiegermutter, Helga Bauer.
„Antonia, Schätzchen, bist du bald da?“, quiekte sie übertrieben lieblich. „Wir frieren hier, und Gerlinde wird langsam ungemütlich.“
„Helga, es tut mir leid, aber ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich, bemüht, freundlich zu bleiben. „Markus hat mir nichts gesagt.“
„Echt?“, tat sie geschockt. „Er hat mir versichert, alles sei geklärt! Aber naja, kann ja mal vorkommen. Beeil dich bitte, Schatz. Gerlinde wird bei Hunger schnell unausstehlich.“
Ich zählte innerlich bis zehn. Immer das Gleiche – alle erwarten, dass ich springe, weil sie es nicht hinbekommen, rechtzeitig zu planen.
*Warum muss ich für die Unfähigkeit anderer büßen?*, schoss es mir durch den Kopf. *Warum gilt das als normal?*
Plötzlich wurde mir klar – ich war nicht wütend auf seine Familie, sondern auf die Situation selbst. Darauf, dass es für selbstverständlich gehalten wurde, mich anzurufen und zu erwarten, dass ich alles fallen ließ, um sie zu bedienen.
„Helga, ich komme heim, aber erwartet nicht, dass ich sofort koche“, sagte ich entschlossen. „Ich bin müde, hatte einen harten Tag. Wenn ihr Hunger habt, gibt es ein Café in der Nähe.“
„Antonia, wie kannst du nur so etwas sagen?“, jammerte Helga gekränkt. „Wir sind doch Familie! Außerdem verträgt Tobias kein Essen aus Restaurants.“
*Wirklich?*, dachte ich sarkastisch. Letztes Mal hatte er sich Fastfood reingestopft, als gäbe es kein Morgen mehr.
Ich begriff: Sie waren es gewohnt, dass sich alles um sie drehte. Irgendwo über den Hochhäusern türmten sich dunkle Wolken auf. Ein Gewitter braute sich zusammen, und allein der Gedanke daran ließ mich erschöpft durchatmen.
Was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Warum sollte ich mich beeilen, um Menschen zu bedienen, die nicht mal die Höflichkeit besaßen, sich anzukündigen? Warum drückte sich Markus feige vor der Verantwortung und ließ mich allein damit?
*Und warum eigentlich nicht?*, schoss es mir plötzlich durch den Kopf.
Ich drehte mich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Dort, um die Ecke, lag ein gemütliches Café, das eine himmlische Carbonara und Tiramisu anbot, das ich schon lange probieren wollte. Entschlossen öffnete ich die Tür und setzte mich an einen Fensterplatz.
„Guten Abend“, lächelte die Kellnerin. „Was darf‘s sein?“
„Carbonara und ein Glas Weißwein“, antwortete ich und bemerkte plötzlich, wie hungrig ich war. „Und zum Dessert ein Tiramisu, bitte.“
Kaum hatte ich bestellt, klingelte mein Handy erneut. Gerlinde. Ich lehnte ab. Eine Minute später – wieder ein Anruf. Diesmal von Helga. Dann eine Nachricht von Markus: *„Wo bist du? Mama sagt, du gehst nicht ran. Sie warten.“*
Ich grinste. Da war er ja, der Held, wenn es brenzlig wurde.
*„Arbeit. Komme später.“*, tippte ich knapp und schaltete das Handy stumm.
Die Kellnerin brachte den Wein. Ich trank einen Schluck und spürte, wie die Anspannung langsam wich. Was würde schon passieren, wenn sie ein bisschen warteten? Oder sich selbst um ihr Essen kümmerten? Die Welt würde nicht untergehen.
Das stumme Telefon vibrierte weiter vor Wut. Ich schaltete es ganz aus. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich etwas Seltsames – eine Mischung aus Schuld und Befreiung. Mir fielen die Worte einer Freundin ein: *„Du machst ständig die Probleme anderer zu deinen eigenen.“*
Schade, dass ich erst jetzt begriff, wieUnd als ich das letzte Stück Tiramisu genoss, wusste ich, dass ich nie wieder zulassen würde, dass andere über meine Grenzen bestimmen.
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