— Oleg, hier ist ein Brief für dich. Ich habe die Post abgeholt, denn der Kasten quoll über. Jede Menge Werbung, Zeitungen und mit Mühe habe ich die Rechnungen herausgefischt, und ein Umschlag ist ebenfalls herausgefallen. Stell dir vor, die Adresse stimmt nicht — eine andere Hausnummer. Aber dein Name steht drauf — Oleg Popov. Und die Wohnungsnummer ist unsere, — Lena stellte die Tasche ab, legte die Zeitungen und Rechnungen auf die Bank und reichte den Brief ihrem Mann.
— Lena, das kann ja wohl nicht für mich sein, schau dir die Absenderadresse an, das kommt aus einem kleinen Dorf irgendwo. Ich habe keine Ahnung, wer das ist — Evdokija Popowa, — Oleg warf den Umschlag auf den Tisch, — Das muss zur Post gebracht werden, da haben die was verwechselt. Oder vielleicht werfen sie es in den Briefkasten mit der angegebenen Hausnummer, da steht ja ein anderes Haus. Aber merkwürdig, lebt da wirklich jemand mit meinem gleichen Namen? — Oleg war erstaunt.
Am nächsten Tag, auf dem Weg zur Arbeit, ging Lena in das Nachbarhaus. Sie wollte den Brief gerade einwerfen, als ein junger Mann, der die Treppe hinunterkam, sie stoppte. — Oh, werfen Sie diesen Brief nicht ein, den haben wir schon zur Post gebracht. Solche kommen hier nicht mehr an, wir wohnen schon über zehn Jahre hier!
Lena schaute auf das Datum des Umschlags — es scheint, als würde dieser Brief schon über einen Monat in den Kasten herumliegen, ohne den Adressaten zu finden.
— Mädchen, suchen Sie jemanden? — Eine alte Frau kam langsam die Treppe herunter. Lena lächelte innerlich — sie war etwa über fünfzig, das Wort “Mädchen” verwendeten jetzt nur noch sehr alte Leute.
— Ja, — Lena drehte den Umschlag in ihren Händen, — Es wurde uns fälschlicherweise in den Briefkasten geworfen. Ich wollte es zum richtigen Ort bringen, aber sie sagen, solche wohnen hier nicht!
— Und welche Wohnung ist das? — Die alte Dame hielt inne und schnaufte. — Zeigen Sie mal her. Aha, Popov. Die wohnen hier schon lange nicht mehr. Da leben andere. — Sind die umgezogen? — Lena war diese Geschichte mit dem Brief schon leid. Hätte ich es einfach in den anderen Briefkasten werfen sollen und gut ist. Nein, dachte sie, vielleicht schreibt die alte Dame an ihre Familie, das ist traurig.
— Umgezogen sind sie, das haben Sie schön gesagt, — nickte die alte Frau, — in die andere Welt sind sie umgezogen, und auch Alka, die Hure, sowie ihr Oleg! Alka war ganz wie ihre Mutter, die konnte nur feiern und den Schwanz wedeln. Ihr Kind hatte sie von einem Unbekannten, meinte, es sei von einem Künstler. Ihre Mutter hat gesoffen — Alka war gerade achtzehn. Es schien ihr nicht einmal leid zu tun, dass ihre Mutter tot war. Wohin sie lebte, weiß nur Gott. Dann aber wurde sie plötzlich brav. Sie brachte Oleg zur Welt und heiratete. Wir waren alle überrascht — der Junge schien ganz gut zu sein, warum hat er sich mit ihr eingelassen? Vielleicht hat sie sich ja wirklich gefangen? Sie begann im Laden zu arbeiten. Oleg ging zur Arbeit in die Fabrik, alles nach Plan. Dann wurde sie schwanger. Aber Alka fiel wieder in alte Muster zurück, feierte weiter. Oleg suchte sie in all diesen schrecklichen Orten, um sie herauszuholen, aber es brachte nichts. Einmal traf Oleg auf einige ihrer alten Freunde, es gab einen Streit. Alka bekam Wehen, aber mit ihrem Lebensstil konnte das Kind nicht überleben. Und dann ist Oleg verschwunden, man sagt, er hat sich besoffen, was für eine Geschichte! Dabei hatten sie doch keine Verwandten, keiner kam, ich würde mich erinnern.
— Vielen Dank, — Lena steckte den Brief in ihre Tasche und lief zur Arbeit.
Am Abend gestand Lena ihrem Mann beim Tee, dass sie während ihrer Mittagspause das unglückliche Schreiben doch aufgemacht, gelesen und sogar geweint hatte. — Hör mal, was die unbekannte alte Frau schreibt:
— Oleg, mein Sohn! Entschuldige die alte Dame, dass ich sauer auf dich war. Ich bin ganz schlecht geworden, meine Augen sehen kaum noch. Dieses Schreiben schrieb Nachbarin Zina. Ich habe dir viele Male angerufen, mein Sohn, wollte mich entschuldigen. Ich habe dir damals böse Worte gesagt, als du in die Stadt gezogen bist. Und dann hast du auch noch geheiratet und mir nicht einmal gleich Bescheid gegeben. Ich konnte dich nicht erreichen. Ich wollte kommen, habe es aber nie geschafft, mein Bein tut weh, und jetzt sehe ich auch kaum noch. Aber ich muss dich doch sehen, wie kann ich meinen geliebten Sohn nicht mehr sehen? Oleg, mein Lieber, komm, Sohn, auch wenn nur kurz, respektiere deine Mutter, ich flehe dich an, im Namen Gottes. Vermutlich bleibt mir nicht mehr viel Zeit, Zina hilft mir, eine gute Seele. Ich warte sehr auf dich, antworte mir, Sohn, halte den Groll nicht fest!
Deine Mutter.
(Du hast mich so in der Kindheit genannt, mein goldener Sohn, mein Geliebter!) Ich warte sehr auf deine Antwort! Lena faltete den Brief und steckte ihn wieder in den Umschlag, — Stell dir vor, sie hat ihm diesen Brief geschrieben, denkt, er lebt, denkt, er ist auf die Mutter sauer und ist für immer aus dem Dorf verschwunden. Und will sich nicht zeigen. Und sie wartet auf ihn, kannst du dir das vorstellen, sie bittet um Verzeihung, — Lena sprach, während Tränen in ihren Augen standen. Beide hatten keinen lebenden Eltern mehr.
Oleg schwieg, rieb sich wie gewohnt die Stirn mit der Hand, als er sich auf etwas Ernstes vorbereitete. — Lena, ich weiß nicht, wozu du das gelesen hast? Und was jetzt? Du verstehst, warum, denk daran, meine Mutter war auch auf mich sauer! Obwohl ich ihr telefonierte, sie besuchte und half, war sie dennoch böse! Sie wollte, dass ihr Sohn bei ihr ist, es war einsam für sie, jetzt verstehe ich das alles. Damals habe ich das nicht verstanden, aber jetzt! Was jetzt, einfach diesen Brief wegwerfen und vergessen? Wegwerfen kann man ihn natürlich, aber die Gedanken kann man nicht wegwerfen, — Oleg saß da, schaute traurig zu Lena, und dann lächelte er plötzlich, — Erinnerst du dich, dass wir zu den heiligen Stätten reisen wollten, in die Provinz, für eine Woche? Lass uns bei dieser alten Dame vorbeischauen, die muss hier irgendwo wohnen. Wir erzählen ihr die Wahrheit, genau so wie es ist, vielleicht können wir ihr wenigstens ein wenig helfen, was denkst du?
Einige Tage später, nachdem Oleg und Lena mehrere Städte des goldenen Rings passiert hatten, näherten sie sich einem kleinen Dorf. Da ist das Haus. Oleg hielt das Auto an und sie stiegen aus.
— Guten Tag, leben Sie hier, Frau Evdokija? — fragte Oleg eine Frau, die an einem Nachbargitter stand. Sie nickte wortlos und schaute die beiden an, als wären sie merkwürdige Wesen. Lena holte die Geschenke aus der Tasche. — Oleg, komm, warum stehst du da? Sie öffneten das alte Gitter, gingen den schmalen Pfad zur Veranda und klopften.
— Kommt rein, es ist offen, — rief die Nachbarin. Sie blieb stehen und beobachtete die Ankömmlinge.
Die alte Tür gab nach, quietschend auf rostigen Scharnieren. In der dunklen Stube lagen Äpfel auf dem Holztisch, füllten die Luft mit einem magischen, fast kindlichen Aroma. Am Fenster saß die alte Dame.
— Frau Evdokija, guten Tag, — sagte Lena mit zitternder Stimme, und die alte Dame drehte sich um. — Guten Tag, liebe Gäste, — klang Erstaunen in der Stimme von Evdokija, — ist denn wirklich jemand zu mir gekommen? Und eine kaum merkliche Hoffnung — könnte es vielleicht wirklich sein? Vielleicht?
— Oleg? Oleg, bist du das? — Die alte Dame stand auf, ging zögerlich auf ihn zu, atmete aufgeregt ein und fiel beinahe in die Arme von Oleg, der sie auffing. Er hielt sie und brachte sie zu einer alten Couch, setzte sich daneben, und sie wiederholte immer wieder, — Oleg, was für eine Freude, mein Sohn! Du bist tatsächlich gekommen. Und während sie ihn ansah, mit fast blindem Blick, streichelte sie seine Hände, seine Jacke, seine Wangen, — Wie stachelig du geworden bist, mein Sohn, bärtig, ganz wie dein Papa! Du bist gekommen, mein Liebling, du bist gekommen!
Oleg sah hilflos zu Lena, aber sie schüttelte ihm zu — schweig, lass sie so denken, lass es sein!
Danach tranken sie Tee mit den Geschenken. Und Evdokija sprach und sprach und sprach… Oleg und Lena ließen alle Geschenke zurück und sogar ihr Reisegeld. Außerdem gaben sie Zina, der Nachbarin Geld. — Wir werden kommen, wir werden auf jeden Fall zurückkommen, — versprach Oleg. Zina schaute lange auf sie, dann fragte sie plötzlich, — Du bist doch nicht ihr Sohn, das sehe ich. Oleg ist vor meinen Augen gewachsen. Was wollt ihr von ihr?
Lena schüttelte Zinas Hand, — Denken Sie nichts Schlechtes, — und erzählte der Nachbarin die ganze Geschichte. Diese beruhigte sich, war überrascht, -Was für gute Menschen sind Sie, gibt es solch gute Menschen noch? Ich verneige mich vor Ihnen für die liebe Dusa, Sie haben sie getröstet, möge Ihnen Gott Glück schenken, — und umarmte Lena.
Evdokija stand am Fenster und winkte sanft der fahrenden Maschine hinterher, indem sie mit ihren Fingern ein Kreuz auf den Weg machte. Sie verstand alles, dass dieser Mann nicht ihr Sohn war. Aber in all den Jahren der Einsamkeit hatte sich ihr Herz mit Wärme gefüllt. Er hat ihr verziehen, dieser Fremde, und um Verzeihung gebeten. Er hielt ihre Hand, und sie fühlte den Sohn, auch wenn es nicht er war. Er sprach, und sie hörte die Stimme ihres Sohnes. Er versprach, dass er kommt, und sie glaubte ihm. Und jetzt hatte sie jemanden, auf den sie warten konnte, sie fühlte, dass sie unbedingt zurückkommen würden, dass sie ihr Versprechen halten würden.
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