**Tagebucheintrag, 31. Dezember**

„Er liebt dich schon lange nicht mehr, eine andere hat sein Herz erobert“, flüsterte die Wahrsagerin mit ihrem bunten Kopftuch und fixierte Saskia mit ihren pechschwarzen Augen. „Schon seit einem halben Jahr!“ Ihre Finger, behangen mit schweren Ringen, umklammerten Saskias Hand.

„Aber er beteuert doch ständig, dass er nur mich braucht“, erwiderte Saskia verstört.

„Er lügt!“, versicherte die Fremde, ihre Ringe klirrten. „Lass ihn gehen.“

„Ich halte ihn doch nicht fest…“

Die exotisch wirkende Frau hatte Saskia mitten auf der belebten Straße überrascht, wo überall die Vorweihnachtshektik herrschte. Gerade war Saskia aus dem Supermarkt gekommen, einen bunten Geschenkbeutel für ihren Mann Daniel in der Hand, als diese seltsame Frau sie anhielt.

„Ich sehe, dass du in einer großen Lüge lebst“, platzte sie heraus und fügte hinzu: „Er hat eine Geliebte.“

Natürlich kannte Saskia diese Straßenbetrügerinnen – Frauen, die einen hypnotisieren, überzeugen und dann die Taschen leeren. Man durfte ihnen nicht trauen. Doch diese Wahrsagerin klang so überzeugend… Oder war es doch Hypnose?

„Du hältst ihn fest – mit deiner Anwesenheit. Er hat Mitleid mit dir. Mach, dass er von selbst geht.“

„Was für ein Unsinn!“, fuhr Saskia sie an.

„Hör mir zu“, beharrte die Frau. „Heute Nacht wird sich dein Schicksal wenden.“

Dann verschwand sie und ließ Saskia verwirrt zurück.

Mit wackeligen Knien lief sie nach Hause. Die Festtagsstimmung war wie weggeblasen. Sie rief ihre Mutter an.

„Saskia, bist du noch ganz bei Trost?“, schimpfte diese. „Die betrügen die Leute doch nur! Hast du dein Portemonnaie und deinen Schmuck überprüft?“

Alles war noch da.

„Ach, Quatsch!“, beendete die Mutter das Gespräch. „Vergiss es einfach.“

Auf dem Heimweg redete Saskia sich ein, dass ihre Mutter recht hatte. Fast gelang es ihr. Zur Sicherheit recherchierte sie noch über Straßenbetrug – fast war sie beruhigt. Um sich abzulenken, begann sie, das Festtagsmenü vorzubereiten. Heute war ihr zehnter gemeinsamer Silvesterabend mit Daniel.

Gegen 21 Uhr rief ihr Mann an.

„Schatz, ich komme später“, sagte er. „Totaler Stress mit dem Jahresabschluss. Ich bin erst nach Mitternacht da.“

„Alles klar“, antwortete sie ruhig. „Ich muss dir übrigens was erzählen.“

„Ach, Unsinn. Wir lachen dann gemeinsam.“

Nach dem Anruf suchte sie ein Festkleid aus. Da klingelte es plötzlich. Vor der Tür stand ein fremder Mann, Mitte 40.

„Da bin ich! Frohes Neues!“, rief er fröhlich.

„Wer sind Sie?“, fragte Saskia erschrocken.

„Komm schon, Saskia, ich bin’s, Jens!“, meinte er verwundert.

„Ich habe Sie noch nie gesehen!“

„Ich versteh’s nicht.“ Er zückte sein Handy und zeigte ihre Adresse und ihren Namen.

„Stimmt doch, oder?“

„Ja, aber woher…“

Dann zeigte er ein Foto von ihr.

„Das solltest du kennen. Übrigens, in echt bist du noch hübscher.“

„Ein Irrtum!“, beharrte sie.

Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Gute Scherze. Na dann – frohes Neues.“

Er ging, doch wenig später hörte sie ein Rascheln im Flur. Sie öffnete vorsichtig – Jens saß draußen.

„Sie sind noch hier?“

„Wohin soll ich? Mein Zug fährt erst morgen, und es ist eiskalt. Tolles Neujahrs-Einladung, muss ich sagen.“

Nach kurzem Zögern lud sie ihn ein.

„Komm rein, wärm dich auf. Ich versuche, es meinem Mann zu erklären, wenn er kommt.“

„Du hast einen Mann?!“

Schweigend ließ sie ihn eintreten.

„Willst du was essen?“

„Jetzt hör auf mit dem ,Sie‘“, fuhr Jens auf. „Wir haben uns doch monatelang vertraut unterhalten.“

„Ich verstehe immer noch nichts, aber vielleicht klärt sich’s noch.“

Sie servierte ihm Salat aus der Schüssel. Er aß hastig. Fast 22 Uhr – noch immer keine Nachricht von Daniel. Sie rief an, doch es meldete sich niemand. Ungewöhnlich.

Um das Schweigen zu brechen, fragte sie Jens über sich aus. Er antwortete verwirrt.

„Das hab ich dir doch schon alles erzählt.“

Trotzdem redete er: Er kam aus Bayern, arbeitete als Bergbauer, 39 Jahre, ledig.

Dann fragte sie nach der Dating-Seite.

„Vor einem halben Jahr hast du mich angeschrieben“, sagte er.

Saskias Verwirrung wuchs.

Kurz vor Mitternacht war das Telefon immer noch stumm. Jens musterte sie misstrauisch.

„Gibt’s deinen Mann wirklich, oder ist das ein Spiel?“

„Natürlich gibt’s ihn!“, rief sie fast weinend.

Jens bat sie, von sich zu erzählen. Nach ein paar Sätzen runzelte er die Stirn.

„Du hast mir ganz anderes erzählt. Entweder du hast gelogen, oder…“

Er zögerte.

„Vielleicht klingt das verrückt, aber ich glaube, jemand hat dich reingelegt.“

„Meinst du, jemand hat ein Fake-Profil erstellt?“

„Genau. Mit deinem Namen und deiner Adresse. Aber wer? Und warum?“

Keine Ahnung. Plötzlich war es Mitternacht. Sie holte Sekt.

„Frohes Neues“, sagte Jens unsicher.

„Dir auch“, antwortete sie.

Dann piepste ihr Handy. Endlich! Doch die Nachricht war ein Schock: Ein Selbstporträt von Daniel, halbnackt mit einer Fremden.

„Mein Gott…“

„Was ist?“, fragte Jens besorgt.

Sie ließ das Handy fallen, Tränen stiegen auf. Jens hob es auf, sah das Foto und blickte sie entsetzt an.

„Das… das ist dein Mann?“

Sie lief ins Bad. Als sie zurückkam, hatte Jens eine Theorie.

„Wusstest du, dass er fremdgeht?“

„Nein…“, flüsterte sie. Doch plötzlich erinnerte sie sich an die Wahrsagerin: *Schon ein halbes Jahr.*

„Du sagtest, ich habe dir vor einem halben Jahr geschrieben?“

„Ja.“

Sie starrten sich an, beide mit demselben Gedanken.

Da klingelte das Telefon. Ein Arzt: Daniel lag mit Vergiftung in der Klinik. Panisch rief sie ein Taxi. Jens begleitete sie.

Im Krankenhaus erzählte der Arzt, Daniels „Freundin“ habe den Notruf gewählt. Die Polizei verhörte sie gerade.

Saskia hörte zufällig mit:

„Ich habe nur das Pulver gegeben, das mir die Wahrsagerin gab… Ich wollte, dass seine dumme Frau die Wahrheit erkennt! Aber ich habe überdosiert…“

Plötzlich sah die Fremde Saskia und verstummte. Kalt drehte Saskia sich um und ging.

Draußen brach sie zusammen. Jens hielt sie fest.

„Alles wird gut. Ich war auch mal dort. Komm.“

Zu Hause machte er Tee, wickelte sie in eine Decke. Er blieb die Nacht über.

Am 1. Januar rief die Klinik an: Daniel war wach. Sie ging hin. Er flehte um Vergebung.

„Ich wollte Schluss machen! Dieser verdammte Tee… Bitte…“

„Ich lasse mich scheiden“, sagte sie ruhig und ging.

Am Abend brachte sie Jens zum Bahnhof.

„Frohes Neues nochmal“, sagte er.

„Danke, dir auch.“

Dann zögerte er.

„Sask„Ich werde dich nicht warten lassen“, sagte Saskia und spürte, wie eine neue Zukunft begann.


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