Mit klopfendem Herzen klopfte Annika an die Tür. Keine Antwort. Zögernd holte sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete. Mein Gott, wie lange sie schon nicht mehr hier gewesen war! Alles war wie früher, nichts hatte sich in diesem einst so vertrauten und geliebten Zuhause verändert, doch alles wirkte jetzt kalt und fremd.

Fast ein Jahr war vergangen seit dem Streit mit Markus. Sie hatten sich schon früher gestritten, da packte Annika schnell ihre kleine Mia zusammen und ging weinend zu ihrer Mutter. Meistens kam Markus am nächsten Tag voller Sehnsucht zurück, um sich zu versöhnen. Das Leben normalisierte sich wieder, und der Frieden brachte sogar eine neue Frische in ihre Beziehung. Doch diesmal war alles anders…

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und ging entschlossen zum Schrank, um die nötigen Dokumente zu suchen. Die Papiere lagen unberührt da, sorgfältig abgeheftet, so wie sie es selbst einst getan hatte. Seit zwei Monaten umwarb sie ein Mann, der schon lange in sie verliebt war. Noch waren sie nicht zusammen, doch vor einer Woche hatte er sie offiziell um ihre Hand gebeten.

Die ganze Woche über konnte Annika nicht schlafen, etwas bedrückte sie, sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Zuerst dachte sie, das Missverständnis mit Markus würde sich von selbst klären. Er würde an ihre Tür klopfen, ihr wie früher tief in die Seele blicken und sagen: “Wie sehr ich dich vermisst habe!”

Doch die Tage vergingen, Monate zogen sich hin, und nichts änderte sich. Markus begegnete ihr nur flüchtig, wurde immer distanzierter und kälter, zwischen ihnen schien ein Abgrund zu klaffen. Er kam nur noch, um Mia abzuholen, nahm das Kind wortlos an die Hand und ging. Später brachte er sie ebenso schweigend zurück. Mia plapperte fröhlich und prahlte mit Papas Geschenken – sie wirbelte vor dem Spiegel in einem neuen Kleidchen oder Schuhen herum. Annika aber erinnerte sich nur traurig daran, wie Markus’ Augen geleuchtet hatten, wenn er früher Geschenke für sie brachte. Aber jetzt… er sah sie nicht einmal mehr an, sie fühlten sich beide unwohl in der Gegenwart des anderen, und sie verschwand schnell in ihrem Zimmer. Ihre Mutter, die Markus nie besonders mochte, sagte oft: “Was Gott gibt, das ist zum Besten.” Langsam begann auch Annika daran zu glauben.

Tief seufzend warf sie einen letzten Blick durch den Raum und… zuckte zusammen: Da lag Markus auf dem Sofa und schlief. Wahrscheinlich nach seiner Schicht. Ihr erster Impuls war, schnell zu verschwinden, doch etwas hielt sie zurück. Jede seiner vertrauten Züge, sein Gesicht war rauer geworden, mit Bartstoppeln bedeckt, dunkle Ringe unter den Augen… Langsam setzte sie sich neben ihn. Was wusste sie eigentlich über diesen Mann, mit dem sie Seite an Seite Jahre verbracht hatte? Welche Gedanken verbargen sich hinter dieser Stirn? Vor ihrem inneren Auge tauchte plötzlich das fast vergessene Gesicht des jungen Markus auf: treue Jungenaugen, und sein Lächeln war so hell gewesen… Sie hatte immer geglaubt, dass sie sich damals genau in dieses Lächeln verliebt hatte, das ihr Leben auf den Kopf stellte. War dieser strahlende Junge und der müde, düstere Mann wirklich dieselbe Person? Und dabei war doch kaum Zeit vergangen. Wieder erschien ihr dieses helle Lächeln, so lebendig, als wäre es ein Vorwurf an sie, an Annika…

Mein Gott, wohin war das alles nur verschwunden? Sie blickte sich hilflos um, als suche sie jemanden, der schuld war an ihrem zerbrochenen Leben. Ihr Herz zog sich zusammen, bebte, gefangen in einer Flut trostloser Erinnerungen. Ihre einst so gemütliche, märchenhafte Welt war nach und nach von kleinen Vorwürfen, Tränen und einem Gefühl des Nichtverstandenwerdens überwältigt worden. Der ständig erschöpfte Markus, der drei Jobs hatte, um sie und Mia zu versorgen, ohne auf andere angewiesen zu sein… Annika hatte Zeit gehabt, alles zu überdenken, und verstanden, dass ihr einfach die Geduld, die weibliche Nachgiebigkeit und Weisheit gefehlt hatten…

Dabei waren sie einst so glücklich gewesen. Und das war kein Hirngespinst. Annika stand abrupt auf, sie musste es sich selbst beweisen. Ihr Blick fiel auf Markus’ Hand, die auf ihrem… Hochzeitsalbum ruhte, auf einem Foto, auf dem sie einfach nur strahlend glücklich gewesen waren…

Ihre Hand zuckte unwillkürlich, und die Fotos rieselten mit einem leisen Rascheln zu Boden. Sie blickte auf und erstarrte… Markus sah sie an.

“Annika, bist du zurückgekommen?”, fragte er, seine Augen leuchteten, und ihr wurde unerträglich klar, dass sie vor einer halben Stunde einfach für immer hätte gehen können…


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