Liebes Tagebuch,

Heute war ein Tag, an dem ich mich wie ein Hamster im Laufrad gefühlt habe. Zwei endlose Meetings, ein Streit mit einem Lieferanten, Berichte, die wegen eines Praktikantenfehlers neu gemacht werden mussten – mein Kopf pochte vor Müdigkeit. Ich wollte nur noch nach Hause, die unbequemen Schuhe ausziehen, eine heiße Dusche nehmen und ins Bett fallen.

Da vibrierte mein Handy in der Tasche. Ich nahm es widerwillig heraus, in der Annahme, es sei mein Mann Thomas, der wissen wollte, was es zum Abendessen gibt. Doch auf dem Display blinkte eine unbekannte Nummer. Normalerweise gehe ich nicht ran, wenn ich die Nummer nicht kenne – aber irgendetwas ließ mich abheben.

„Hallo?“, sagte ich müde, während ich weiter Richtung Bahnhof ging.

„Wo steckst du denn, du Schaf? Wir stehen schon seit einer Stunde vor deiner Tür und verhungern!“, bellte eine grobe Stimme in mein Ohr.

Ich erstarrte mitten auf dem Gehweg. Die Welt um mich herum rauschte weiter, Passanten wichen mir aus, aber ich stand da wie angewurzelt. Diese Stimme – scharf, mit diesem unverkennbaren sächsischen Akzent – das konnte nur Thomas‘ Tante, Karin, sein.

„Entschuldigung… wie bitte?“, fragte ich, in der Hoffnung, mich verhört zu haben.

„Bist du taub?“, hörte ich ein genervtes Schnauben. „Wir sind da! Ich, deine Schwiegermutter und der Markus. Seit einer Stunde warten wir! Hast du das etwa vergessen?“

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Heute war kein Feiertag, kein Geburtstag. Niemand hatte mir gesagt, dass Besuch kommt.

„Karin, tut mir leid, aber ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich vorsichtig.

„Wie kannst du nichts wissen?“, fauchte sie. „Thomas hat das vor einer Woche mit dir abgesprochen! Er sollte es dir sagen!“

Ich seufzte tief. Großartig – wieder ein „Vergessen“ meines lieben Mannes. Thomas hatte die Angewohnheit, wichtige Dinge zu verschweigen, um sich nicht kümmern zu müssen.

„Thomas hat mir nichts gesagt“, antwortete ich bestimmt. „Ich bin noch bei der Arbeit, bin in etwa vierzig Minuten da.“

„Vierzig Minuten?!“, kreischte Karin. „Wir sind hungrig und müde von der Fahrt! Kannst du nicht schneller?“

In mir stieg die Wut hoch. Unangemeldet auftauchen, unfreundlich sein und erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse, um sie zu bekochen? Eine Gedankenblitz durchfuhr mich: *Was, wenn ich heute bei einer Freundin übernachtet hätte? Oder auf Dienstreise wäre?*

„Hört mal, ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich, so ruhig wie möglich. „Gebt mir bitte Zeit, nach Hause zu kommen.“

„Wir haben keine Zeit!“, zischte Karin. „Markus klettert gleich die Wände hoch vor Hunger!“

Markus, der Cousin meines Mannes – ein 35-jähriger Riese, der noch bei Mutti wohnte und nicht einmal ein Spiegelei braten konnte.

„Wo ist Thomas?“, fragte ich, während mein Blut zu kochen begann.

„Keine Ahnung! Er geht nicht ran. Vermutlich hat er Überstunden.“

Ich beendete das Gespräch, ohne mich zu verabschieden. Mein Herz hämmerte vor Ärger. Ich rief Thomas an. Keine Antwort. Beim zweiten Versuch dasselbe. Ich kannte diesen Trick – er nahm nie ab, wenn es unangenehm wurde.

*Also weiß er Bescheid*, dachte ich wütend. *Und drückt sich wie immer vor der Verantwortung.*

Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war es meine Schwiegermutter, Helga.

„Liebchen, wann bist du denn endlich da?“, quengelte sie mit gespielter Süßlichkeit. „Wir frieren hier, und Karin wird langsam ungnädig.“

„Helga, tut mir leid, aber ich wusste nichts von eurem Besuch“, sagte ich, bemüht, freundlich zu bleiben. „Thomas hat mir nichts gesagt.“

„Wirklich?“, tat sie überrascht. „Er hat mir versichert, dass ihr das besprochen habt! Nun ja, passiert.“

Ich schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Immer das Gleiche – alle erwarten, dass ich springe, wenn sie pfeifen.

*Warum muss ich mich eigentlich für die Unzuverlässigkeit anderer verantwortlich fühlen?*

Plötzlich wusste ich: Ich war nicht nur sauer auf die Verwandtschaft – sondern auf die ganze Situation.

„Helga, ich komme nach Hause, aber erwartet nicht, dass ich sofort koche“, sagte ich fest. „Ich hatte einen anstrengenden Tag. Wenn ihr Hunger habt, gibt es ein Café um die Ecke.“

„Aber Schätzchen, wir sind doch Familie!“, protestierte Helga. „Außerdem hat Markus eine Allergie gegen Restaurantessen.“

*Wirklich?*, dachte ich sarkastisch und erinnerte mich an Markus, der beim letzten Treffen Fast Food verschlang, als wäre er ausgehungert.

Ich wusste genau: Seine Familie war es gewohnt, dass sich alles um sie drehte. Irgendwo am Horizont zogen dunkle Wolken auf, und allein der Gedanke daran ermüdete mich.

*Warum sollte ich rennen, um Leute zu bedienen, die nicht mal den Anstand hatten, vorher anzurufen? Warum traut sich Thomas nicht, den Hörer abzunehmen?*

Dann kam ein wilder Gedanke: *Warum eigentlich nicht?*

Ich drehte mich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Dort, um die Ecke, war ein gemütliches Café, das köstliche Pasta und Tiramisu servierte. Ich setzte mich entschlossen an einen Tisch am Fenster.

„Guten Abend, was darf’s sein?“, fragte die Kellnerin freundlich.

„Penne Arrabiata und ein Glas Weißwein“, sagte ich und spürte plötzlich, wie hungrig ich war. „Und zum Dessert Tiramisu, bitte.“

Kaum hatte ich bestellt, klingelte mein Telefon wieder – Karin. Ich lehnte ab. Dann rief Helga an. Schließlich eine Nachricht von Thomas: *„Wo bist du? Mama sagt, du gehst nicht ran.“*

Ich grinste. Nun meldete er sich also.

*„Habe Überstunden. Komme später.“*, tippte ich kurz und schaltete das Telefon stumm.

Die Kellnerin brachte den Wein. Ein Schluck, und die Anspannung begann zu weichen. Was sollte schon passieren, wenn seine Verwandtschaft etwas warten musste? Oder sich selbst um ihr Essen kümmerte?

Mein Telefon vibrierte ununterbrochen. Ich schaltete es einfach aus. Zum ersten Mal seit Langem spürte ich ein seltsames Gefühl – eine Mischung aus Schuld und Befreiung.

*Warum habe ich eigentlich immer die Probleme anderer zu meinen gemacht?*

Die Pasta war köstlich. Vielleicht lag es an der Freiheit, die ich fühlte, weil ich meine eigenen Bedürfnisse plötzlich wichtiger nahm.

Irgendwann musste ich dann doch nach Hause. Statt eines Streits erwartete mich Stille. Nur zwei leere Dönerboxen lagen vor der Tür – die „Dankbarkeit“ der Verwandtschaft.

Thomas saß mit finsterer Miene auf der Couch und tat so, als würde er fasziniert fernsehen.

„Na, endlich“, murmelte er, aber ohne Biss.

Ich überging seinen Kommentar. Mein Telefon zeigte Dutzende verpasste Anrufe und Nachrichten. Helga versuchte es mit Vorwürfen („Wie konntest du uns so behandeln?“), während Karin direkt beleidigte („Was bist du nur für eine Frau?!“).

Thomas sah mich unsicher an. „Mama hat alle fünf Minuten angerufen. Stell dir vor, wie ich aussah, als ich heimkam und die da wie Obdachlose auf der Bank saßen!“

IchDoch diesmal lächelte ich nur, denn plötzlich war mir klar, dass ich nicht länger diejenige sein würde, die sich für die Unzuverlässigkeit anderer rechtfertigt – und von diesem Moment an wurde alles anders.


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