Hannelore schlurfte langsam die Straße entlang, ihre Füße bewegten sich wie von selbst. Der Tag war unerträglich lang gewesen: zwei Besprechungen, ein Konflikt mit einem Lieferanten, Berichte, die wegen eines Praktikantenfehlers nochmal gemacht werden mussten. Ihr Kopf brummte, die Gedanken verwirrten sich. Sie sehnte sich nur nach eins: nach Hause kommen, die unbequemen Schuhe ausziehen, eine heiße Dusche nehmen und ins Bett fallen.

In ihrer Handtasche vibrierte das Handy. Widerwillig griff Hannelore danach, vermutete, dass ihr Mann Klaus fragte, was es zum Abendessen geben sollte. Doch als sie auf den Bildschirm sah, erschrak sie – eine unbekannte Nummer. Normalerweise ging sie nicht ran, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie es tun sollte.

“Hallo?”, sagte sie müde und ging weiter.

“Wo steckst du denn, du Schaf? Wir stehen schon seit einer Stunde vor deiner Tür und haben Kohldampf!”, knurrte eine raue Stimme in der Leitung.

Hannelore blieb wie angewurzelt mitten auf dem Gehweg stehen. Die Welt um sie herum drehte sich weiter, Passanten wichen der versteinerten Frau aus, aber sie konnte ihren Ohren nicht trauen. Diese Stimme – scharf, mit diesem typischen Unterton – gehörte Tante Ulrike, der Schwester von Klaus’ Mutter.

“Wie bitte?”, fragte Hannelore und hoffte, sich verhört zu haben.

“Hörst du nicht richtig? Wir sind da! Ich, deine Schwiegermutter und der Andi. Seit einer Stunde warten wir. Hast du das etwa vergessen?”

Verwirrt runzelte Hannelore die Stirn. Heute war kein Feiertag, kein Geburtstag. Niemand hatte sie über diesen Besuch informiert.

“Tante Ulrike, entschuldigen Sie, aber ich wusste nichts von Ihrem Besuch”, antwortete sie vorsichtig.

“Wie, du wusstest nichts? Klaus und ich haben das vor einer Woche besprochen! Der hätte dir Bescheid sagen sollen!”

Hannelore seufzte tief. Großartig, wieder eine Überraschung von ihrem Mann. Klaus “vergass” oft wichtige Dinge, nur um sich nicht verantwortlich fühlen zu müssen.

“Klaus hat mir nichts gesagt”, sagte sie bestimmt. “Ich bin noch bei der Arbeit und brauche etwa vierzig Minuten.”

“Vierzig Minuten?!” Tante Ulrike klärte unverhohlen empört. “Wir sind hungrig und müde von der Fahrt! Geht das nicht schneller?”

Hannelore spürte, wie sich Ärger in ihr ausbreitete. Die Verwandten ihres Mannes tauchten unangemeldet auf, wurden grob und erwarteten, dass sie alles stehen und liegen ließ, um sie zu bekochen. Blitzartig schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: *Was, wenn ich heute bei einer Freundin übernachtet hätte? Oder auf Geschäftsreise wäre?*

“Hören Sie, ich wusste nichts von Ihrer Ankunft”, sagte sie so ruhig wie möglich. “Geben Sie mir bitte die Zeit, nach Hause zu kommen.”

“Wir haben keine Zeit zu warten!”, schnaubte Tante Ulrike. “Andi klettert bald vor Hunger die Wände hoch!”

Andi – der Cousin ihres Mannes, ein über dreißigjähriger Mann, der noch bei Mutti wohnte und nicht mal ein Spiegelei braten konnte.

“Wo ist Klaus?”, fragte Hannelore und spürte, wie ihre Geduld schwand.

“Woher soll ich das wissen? Er geht nicht ran. Wahrscheinlich hat er Überstunden.”, sagte Tante Ulrike ungeduldig. “Also, kommst du jetzt oder nicht?”

Hannelore beendete das Gespräch ohne Abschied. Ihr Herz pochte vor Wut. Sie rief Klaus an. Lange Freizeichen, dann die Mailbox. Ein zweiter Versuch – dasselbe Ergebnis. Sie kannte diesen Trick: Klaus nahm nicht ab, wenn er wusste, dass das Gespräch unangenehm werden würde.

*Also weiß er genau, was los ist*, dachte Hannelore. *Und drückt sich feige vor der Verantwortung. Wie immer.*

Das Telefon klingelte erneut. Diesmal die Nummer ihrer Schwiegermutter, Gertrud.

“Hannelore, Schatz, bist du bald da?”, piepste Gertrud mit honigsüßer Stimme. “Wir frieren hier, und Ulrike ist schon ganz schön gereizt.”

“Gertrud, entschuldigen Sie, aber ich wusste nichts von Ihrem Besuch”, sagte Hannelore und versuchte, freundlich zu bleiben. “Klaus hat mir nichts gesagt.”

“Wirklich?”, tat Gertrud überrascht. “Er hat doch gesagt, alles sei abgesprochen! Na ja, passiert halt.” Beeil dich bitte, Ulrike wird bei Hunger richtig unausstehlich.”

Hannelore schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Wieder dasselbe – alle erwarteten, dass sie ihre Pläne über den Haufen warf, nur weil andere unorganisiert waren.

*Warum muss ich für die Unzuverlässigkeit anderer geradestehen? Warum gilt das als normal?*

Plötzlich wurde ihr klar: Sie war nicht nur sauer auf die Verwandten, sondern auf die Situation selbst. Dass alle es selbstverständlich fanden, sie herumzukommandieren.

“Gertrud, ich komme nach Hause, aber erwarten Sie nicht, dass ich sofort koche. Ich bin müde, es war ein anstrengender Tag. Wenn Sie Hunger haben, gibt es ein Café um die Ecke.”

“Aber Hannelore!”, klang Gertrud gekränkt. “Wir sind doch Familie! Außerdem hat Andi eine Allergie gegen Restaurant-Essen.”

*Wirklich?*, dachte Hannelore sarkastisch und erinnerte sich, wie Andi beim letzten Treffen Fastfood verschlang, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.

Ihr wurde klar: Die Verwandten ihres Mannes waren es gewohnt, dass sich alles um sie drehte. Über den Häusern zogen dunkle Wolken auf, ein Gewitter braute sich zusammen. Bei dem Gedanken daran überkam sie pure Erschöpfung.

Was sollte das überhaupt? Warum sollte sie heimrasen, um Launen von Leuten nachzugeben, die nicht mal die Höflichkeit hatten, sich anzukündigen? Warum nahm ihr feiger Mann nicht mal das Telefon ab, sondern ließ sie allein damit?

*Warum eigentlich nicht?*, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.

Hannelore drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Dort um die Ecke lag ein gemütliches Café, das köstliche Pasta und Tiramisu servierte – letzteres wollte sie schon lange probieren. Entschlossen öffnete sie die Tür und wählte einen Tisch am Fenster.

“Guten Abend”, lächelte die Kellnerin. “Was darf es sein?”

“Spaghetti Carbonara und ein Glas Weißwein”, sagte Hannelore und merkte plötzlich, wie hungrig sie war. “Und zum Dessert ein Tiramisu, bitte.”

Kaum hatte sie bestellt, vibrierte ihr Telefon erneut – Tante Ulrike. Sie lehnte den Anruf ab. Eine Minute später – wieder ein Anruf, diesmal von Gertrud. Dann eine Nachricht von Klaus: *”Wo bist du? Mama sagt, du gehst nicht ran. Sie warten vor der Tür.”*

Hannelore lächelte bitter. Da tauchte der Gatte ja auf, als es brenzlig wurde.

*”Bin noch bei der Arbeit, komme später”*, tippte sie kurz und stellte das Handy auf stumm.

Die Kellnerin brachte den Wein. Als Hannelore einen Schluck nahm, spürte sie, wie die Anspannung langsam nachließ. Was sollte schon passieren, wenn die Verwandten ein bisschen warteten? Oder sich selbst um ihr Essen kümmerten? Die Welt würde nicht untergehen.

Das stumm geschaltete Telefon vibrierte ununterbrochen. Hannelore schaltete es schließlich ganz aus. Zum ersten Mal seit Langem spürte sie ein seltsames Gefühl – eine Mischung aus Schuld und Befreiung. Ihr fielen die Worte einer Freundin ein: *”Du löst zu oft Probleme anderer Leute, die dann deine werden.”*Als sie am nächsten Morgen erwachte, lächelte sie zum ersten Mal seit Langem – nicht weil sich alles geändert hatte, sondern weil sie endlich verstand, dass sie es nicht allen recht machen musste.


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